"Für immer Frühling"
oder:
Wenn das die Träume junger Menschen sind, dann sind wir verloren. (Frédéric Schwilden) [1]


12.2.2024

Jede Bewegung braucht ihre Musik, sei es, wie Einstein meinte, um mit Lust (aber vielleicht ohne Gehirn) in Reih und Glied marschieren zu können, sei es, um in einem stampfenden Rhythmus nicht nur das wunderschöne Lied „Guantanamera“ zu verhunzen, sondern auch die hirnrissige, weil tödliche[2] Forderung aufzustellen “Wir wollen kein CO2 mehr“ (Die „Singers for future“).
Stefan Zweig[3] berichtet von der Entstehung eines solchen Songs, der dann später als Marseillaise bekannt wurde - geschrieben von einem recht unbekannten Komponisten in einer Nacht:

Wie unter fremdem Diktat schreibt hastig und immer hastiger Rouget die Worte, die Noten hin – ein Sturm ist über ihn gekommen, wie er nie seine enge bürgerliche Seele durchbrauste. Eine Exaltation, eine Begeisterung, die nicht die seine ist, sondern magische Gewalt, zusammengeballt in eine einzige explosive Sekunde, reißt den armen Dilettanten hunderttausendfach über sein eigenes Maß hinaus und schleudert ihn wie eine Rakete – eine Sekunde lang Licht und strahlende Flamme – bis zu den Sternen. Eine Nacht ist es dem Kapitänleutnant Rouget de Lisle gegönnt, Bruder der Unsterblichen zu sein: aus den übernommenen, der Straße, den Journalen abgeborgten Rufen des Anfangs formt sich ihm schöpferisches Wort und steigt empor zu einer Strophe, die in ihrer dichterischen Formulierung so unvergänglich ist wie die Melodie unsterblich.
Nach dieser Berührung durch das Göttliche verschwand dieser Rouget wieder in der Bedeutungslosigkeit. Irgendwie halten aber seine 15 Minuten Ruhm bis heute an. Auch bei Soffie, der weisen Schöpferin der Hymne gegen Rechts, die fortan diese gesegneten Demonstrationen begleiten wird, fand eine solche Berührung mit dem Göttlichen statt: genauer gesagt mit TikTok. Von TikTok wurde ihr jene weltverändernde Kraft verliehen, die dafür sorgt, dass fortan alles gut wird. Gleichzeitig muss man Soffie in eine Reihe mit Martin Luther King stellen, denn auch sie hat einen Traum: den von Soffies wunderbarer Welt. Gleichwohl ist dieser Traum etwas different zu dem von Martin Luther King[4]. Sehen wir uns ein paar Themen an:

1. Klima und Wetter

Es soll immer Frühling sein (nach diesem Wunsch heißt gar das Lied: „Für immer Frühling“).
Es soll niemand frieren.
Die Winter sollen nicht so trübe sein, dafür die Sommer kühler.
Aber sie möchte doch Sonne auf der Haut.
Der Himmel soll nur noch blau und rosarot sein.

2. Essen

Es soll niemand hungern, denn es gibt Kaviar und Hummer im Überfluss. Und Vanilleeis zum Nachtisch.

3. Politisches

Jeder darf in das Land kommen und jeder wieder weggehen, es gibt immer einen Platz für ihn oder sie am Tisch. Alle sind willkommen. Kinder kommen an die Macht. Es gibt keine hohen Mauern mehr, Waffenspeicher sind leer. "Keiner ist im Soll, sag mir einfach, was du brauchst."

4. Persönliches (schwer vom Politischen zu trennen)

Soffie möchte, dass ihr Karmakonto voll ist. Alle sterben erst, wenn sie alt sind (also auch Soffie). Sie möchte sagen können, was sie fühlt.

4. Persönliches (schwer vom Politischen zu trennen)

Du nennst es Utopie, ich nenn‘ es Heimat. Revolutionierte Freiheit.

Hierzu halte ich ein paar Bemerkungen für angebracht:

Erstens

scheinen mir die Wünsche an den Wettergott schwer zu realisieren zu sein (es sei denn, im Barbie-Land), und überdies wären sie zerstörerisch.

Zweitens

nehme ich mit Verwunderung die Essenswünsche von Soffie wahr. Vielleicht hat es sich noch nicht herumgesprochen: Kaviar und Hummer sind nicht vegan, sondern stellen im Gegenteil ökologisch recht problematische Nahrungsmittel dar! Würden diese im Überfluss für alle zur Verfügung gestellt, käme wohl einiges ins Kippen. Man ist an dieser Stelle an eine ähnliche Forderung von Heine erinnert: Zuckererbsen für jedermann, bis dass die Schoten platzen. Dagegen ist weniger einzuwenden, denn immerhin handelt es sich um ein veganes und dennoch eiweißreiches Lebensmittel.

Drittens

Vanilleeis zum Nachtisch ist weit weniger schlimm. Man fragt sich allerdings, warum ausgerechnet Vanilleeis. Hypothetisch könnte man annehmen, dass, da Muttermilch Vanille-Aromen enthält, die Erinnerung an die paradiesische Frühzeit (gesellschaftlich wie individuell) geweckt werden soll, symbolisiert durch das Land, in dem alles in Ordnung ist, was ein zutiefst regressives Geschehen darstellt (bemerken möchte ich an dieser Stelle, dass ich diese Hypothese nicht an Soffie persönlich festmache – was ich auch gar nicht könnte –, sondern eher vom kollektiven Unbewussten rede.)

Viertens

ist Soffies Ziel, dass jeder in jenes Land kommen und aus ihm fortgehen darf. In Fachbegriffen ausgedrückt hieße das unbegrenzte Immigration und Remigration. Letzteres ist aber gerade ein giftiges Wort geworden, was dann bedeuten würde, alle dürfen rein, aber keiner raus. Auch eine hübsche Idee.

Fünftens:

Das mit den rot-weiß karierten Stoffen und dem Verbot weißer Fahnen verstehe ich nicht.

Sechstens:

Wie hoch dürfen Mauern sein?

Siebentens:

Völlig leere Waffenspeicher könnten unter Umständen ein gewisses Problem verursachen.

Achtens:

Was ein volles Karmakonto ist, weiß ich nicht, was ein leeres Bankkonto ist, weiß ich hingegen. Was Schulden sind, auch. Künftig werde ich mich in einem solchen Falle vertrauensvoll an Soffie wenden mit der Bitte, wie angeboten, meinen Saldo auszugleichen.

Neuntens:

"Du nennst es Utopie, ich nenne es Heimat". Nun ja, Utopie ist das, was keinen Ort hat. Ob man Heimat hierzu rechnen kann? Ich meine, ja. Heino würde das anders sehen.

Zehntens:

Was ist eigentlich revolutionierte Freiheit? Revolution heißt ja so etwas wie „zurückdrehen“ oder „umwälzen“. Könnte es sein, dass die revolutionierte Freiheit jene ist, die in ihr Gegenteil verkehrt wurde (ob nun rechtsrum oder linksrum)?

MEINE ZUSAMMENFASSUNG

Selbstverständlich ist es das Recht von jedermann, ein schlechtes Lied zu schreiben und normalerweise reicht es für die anderen völlig aus, nicht mitzusingen. Hier haben wir aber ein Lied vor uns, das mit einer politischen Bewegung in Verbindung steht. Und damit verbindet sich Verantwortung. Auch die Marseillaise steht irgendwie mit der Guilliotine in Verbindung (erfunden wurde sie von einem deutschen Klavierbauer). Sogar der Verfasser der Marseillaise wäre fast unter die Guilliotine geraten.

Eine letzte Bemerkung sei mir noch gestattet: Im offiziellen Video zu dem hier in Frage stehenden Lied sieht man eine verklärt dreinschauende junge Frau, die ein Schild hochhält, auf dem folgendes zu lesen ist:
liberté
egalité
FckAFD

Nun ja, die ursprüngliche Fassung aus der bereits erwähnten französischen Revolution ist hinreichend bekannt. Hier wurde die Idee der Brüderlichkeit ersetzt durch die Aufforderung, die AFD zu ficken[5]. Die Freiheit wurde bereits im Lied durch die revolutionierte Freiheit ersetzt. Bleibt die Gleichheit. Die ist aber die problematischste Forderung, denn Menschen sind nun einmal nicht gleich. Auch in der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte ist nicht von Gleichheit die Rede, sondern von Gleichheit bei der Geburt sowie von Gleichheit in Rechten und Würde.

Ok, noch eine allerletzte Bemerkung: Die Aufforderung „Fck AFD“ ist unrealistisch, denn wie hätte man sich das bitte vorzustellen? Es kann also nur davon die Rede sein, Mitglieder oder Sympathisanten der AFD zu ficken, was, wenn es nicht einvernehmlich geschieht, eine Straftat ist, bzw, wenn man nicht selbst zur Tat schreitet, sondern ein entsprechendes Plakat hochhält, als Aufforderung zum Begehen einer Straftat interpretiert werden muss. Wie wäre es denn, wenn man stattdessen miteinander redete? Aber ich vergaß: Dagegen gibt es ja die Diskursbrandmauer.

q.e.d.

Fußnoten

  1. https://www.welt.de/kultur/plus250002024/Demo-Hymne-Fuer-immer-Fruehling-von-Soffie-Reaktionaerer-als-Heino.html
  2. Wenn man es genau nimmt, folgt aus der Tödlichkeit nicht unbedingt die Hirnrissigkeit, aber für unsere Zwecke mag die Gleichsetzung ausreichen.
  3. "Sternstunden der Menschheit", darin: "Das Genie einer Nacht"
  4. Ganz persönlich: Wenn ich die berühmte Rede von Martin Luther King wieder einmal lese, dann ist ein Taschentuch in der Nähe, denn dabei bekomme ich gelegentlich feuchte Augen. Wenn ich mich mit Soffies Lied befasse, habe ich stattdessen eine Kotztüte in der Hand.
  5. Mir erschließt sich nicht vollkommen, warum hier das U bzw. im Deutschen das I weggelassen wurde, es sei denn, es gäbe ein mächtiges Eltern-Introjekt, das das Aussprechen oder Hinschreiben eines solchen bösen Wortes unter Androhung von Strafe verbietet. (Wenn du solch ein böses Wort sagst - oder gar so was Böses tust - , kriegst du kein Vanilleeis zum Nachtisch!) In Wirklichkeit sind natürlich die bösen und giftigen Worte ganz andere.
    Über böse und giftige Worte sowie über die Geni(t)alität von Flüchen werde ich mich im zweiten Band dieses meines epochalen Werkes verbreiten.


    Richtigstellung: Natürlich hat weder dieser Text noch die Abbildung das Geringste mit Barbie zu tun! Auch nicht mit Ken.