Der böse christliche Fundamentalismus
und:
Die neun Musen


2.5.2014

Man las dieser Tage von einer Bemerkung, deren Inhalt entweder als dumm, auf Unwissenheit gründend oder als Lüge bezeichnet werden muss. Vielleicht käme noch eine Wahnidee als Erklärung in Betracht, da ich mich aber an die Goldwater-Regel halte und überdies tatsächlich keine Diagnose stellen könnte, kann dieser Bereich nicht Teil meiner Betrachtung sein. Bei den anderen Attributen handelt es sich hingegen nicht um Diagnosen, sondern um eine Meinung des Alltags. Auch die Tatsache, dass es sie bei den Personen, denen diese Bemerkung zugeschrieben wird, um zwei Professoren handelt, schließt diese Vorwürfe leider nicht aus.

Worum geht es?
Wie die „WELT“ berichtete[1], sollten am Berliner Stadtschloss Statuen von acht jüdischen Propheten aufgestellt werden (Kopien der vor der Zerstörung bereits vorhandenen). Von den erwähnten Professoren wurde diese Tatsache laut „Welt“ als christlicher Fundamentalismus bezeichnet, daneben werden diese Propheten als rechte angesehen und als "völkische" Symbolgestalten. Dass jemand oder etwas jüdisch, christlich-fundamental und deutsch-völkisch ist, sollte man wohl als absurd bezeichnen (es sei denn, man folgte – was im vorliegenden Fall zu vermuten ist – dem manichäischen Gedanken, dass alles, was nicht links ist, böse ist und daher nicht weiter differenziert werden muss). Mich näher mit dieser Absurdität zu befassen, ist wahrscheinlich nicht nötig, denn das hat Matthias Heine, der Verfasser des Welt-Artikels, zur Genüge getan (und wahrscheinlich besser, als ich es könnte).

Stattdessen möchte ich einen weiteren Vorschlag unterbreiten, der wahrscheinlich bei linken Aktivisten rege Zustimmung finden wird. Dabei geht es nicht um acht, sondern um neun mythische Gestalten: die Hesiodschen Musen, Töchter der Mnemosyne und des Zeus.
Im Folgenden möchte ich darlegen, warum es gut wäre, Darstellungen dieser Gestalten zu vermeiden, zu verbieten bzw. zu schleifen.
Vorsicht! Ich folge dabei nicht dem alten (und blödsinnigen, da nur psychomechanischen) Merksatz „Kliometerthal Euer Urpokal“[2], sondern meiner eigenen Erinnerung, die mit Tanz und Wissenschaft beginnt, also mit

Terpsichore

Bekannt ist sie als Muse des Tanzes und der Chorlyrik. Weniger bekannt ist, dass sie auch die schönen Künste und die Wissenschaften erfunden und damit weitere Quellen der Freude in die Welt gebracht hat. Was hat nun Tanz mit Wissenschaft zu tun? Auf den ersten Blick gar nichts. Auf den ersten Blick ist Wissenschaft ein Geradeausgehen, wohl manchmal gegen Widerstände, aber immer weiter und immer höher auf ein (imaginäres) Ziel zu. Das geschieht immer öfter im Gleichschritt und zu den Marschrhythmen jenes bereits erwähnten Pseudo-Liedes „Wir wollen kein CO2“, gesungen nach der Notenfolge (nicht zur Melodie!) von „Guantanamera“.
Aber vielleicht ist diese Wissenschaft nicht mehr diejenige, die von Terpsichore erfunden wurde. Vielleicht passt jene besser zum Rhythmus und Inhalt von „Guantanamera“. Ich drehe mich um meine Achse, wenn ich tanze, um mich das Universum. Ich bin das Zentrum (was ich natürlich nicht bin), so wie sich das Universum um das Foucaultsche Pendel dreht (was es natürlich nicht tut).

Erkennen als Tanz? Als Liebe?

Aber das ist gefährlich für die Marschierer. Sie kommen aus dem Tritt, wie wenn Oskar die Blechtrommel schlägt – und schließlich alle tanzen.

Deshalb muss Terpsichore weg.

Urania und Kalliope

sind als Musen der Wissenschaft bekannter. Als Insignien haben sie das Buch (Kalliope) und den Zeigestab (Urania) und verweisen so nebenher bemerkt auf die Wittgensteinsche Dialektik von Sagen/Schreiben/Hören/Lesen einerseits und Zeigen/Hinsehen andererseits.

Wenn Kalliope einen an der Hand nimmt – bzw. ihm den Schreibgriffel in die Hand drückt, so ist das ein klarer Auftrag. Die andere Seite ist aber das Lesen. Und diese Seite ist problematisch. Ich weiß nicht, ob die Menschen, die einen Text von sagen wir 1764 Worten zusammenhängend lesen können und wollen[3], bereits in der Minderheit sind oder nur auf dem Weg dahin. Vermutlich wird irgendwann die Parität zwischen Schreibern und Lesern erreicht.
Über die Qualität des Geschriebenen sagen diese Zahlen allerdings nichts aus. Aufgrund dieser Annahmen könnte man Kalliope als harmlos ansehen und ihr ein Gnadenbrot geben – wenn nicht von Zeit zu Zeit jemand aufstünde und ein Buch wie Dynamit schriebe. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob wir das auch merken würden.

Sicherheitshalber muss also auch Kalliope weg.

Urania hingegen vermittelt ihre Lehre durch Zeigen. Auch das Zeigen hat eine andere Seite: Das Hinsehen. Man muss durch das Fernrohr sehen, um die Jupitermonde zu erkennen (außer man ist ein Gänsegeier). Nicht alle haben das bekanntlich getan. „Sieh selbst hin!“ ist die Botschaft der Urania. „Folge nicht dem, was in den Büchern steht“. Man könnte auch sagen: „Folge nicht der Wissenschaft (Marschmusik), folge der Natur!“

Zu erwähnen ist noch, dass Urania in unserer Zeit noch eine weitere Funktion hat: Sie ist die Muse der Kernkraftwerke. Schon deshalb muss sie weg.

Klio

Klio ist die Muse der Geschichtsschreibung und könnte als solche durchaus weiteren Bestand haben, wenn sie sich mit einer Forderung des Ministeriums für Wahrheit einverstanden erklärte: Die Geschichte muss veränderbar bleiben. Es geht nicht an, dass das einmal Aufgeschriebene für immer Gültigkeit hat. Und wir müssen auch anerkennen, dass beim Aufschreiben keine Objektivität waltet, sondern dass die Interessen des jeweiligen Schreibers eine Rolle spielen. Ein anderer Schreiber kann das anders sehen.
Wenn die Klio sich nicht bereit erklärt, den Einwand „Ich sehe das aber anders“ ohne weitere Begründung zu akzeptieren, dann muss sie weg. Wir haben ja schließlich eine Demokratie, in der jeder alles so sehen kann, wie er will – wobei sich der Spielraum bei der Obrigkeit doch ein klein wenig vom üblichen Spielraum unterscheidet und wobei dieses Denken-was-man-will doch beim „Normalo“ gelegentlich empfindliche Konsequenzen haben kann. Aber das ist der Preis der parlamentarischen Demokratie: Wo gehobelt wird, da fallen Köpfe.

Klio muss weg!

Thalia und Melpomene

Diese beiden Musen haben mit dem Theater zu tun, wobei Melpomene für die Tragödie zuständig ist und Thalia für die Komödie. Damit entsprechen sie den menschlichen Grundgefühlen von Trauer und Freude. Leider bildet das aber nicht die Wirklichkeit ab, denn die Wirklichkeit ist weder traurig noch freudig, sondern sie ist ernst. Und politisch. Solange das Theater nicht in allen seinen Verzweigungen politisch wirksam wird, erfüllt es seinen von der Obrigkeit erteilten Auftrag nicht. Man sollte in diesem Zusammenhang auch an den bekannten Satz von Schiller denken:

Ernst ist das Leben, Ernst sei auch die Kunst!

Ergo: Melpomene und Thalia müssen weg.

Erato und Euterpe

Diese beiden musikalischen Musen haben viel miteinander zu tun und natürlich auch mit Terpsichore. Erato als die Muse der Liebesdichtung und Euterpe als Muse der Musik (ja ich weiß, das ist zu vereinfacht…) können sehr gut zusammenarbeiten und das besingen, was die Menschen zueinander bringt – ein Ich zu einem Du oder zu zweien oder zu mehreren, zu einem organisch gewachsenen Netz, in dem auch der Einzelne allein seinen Platz hat. Das widerspricht aber der von der Obrigkeit verordneten Zwangs-Solidarität und dem Zwangs-Wir und stellt dem eine gefährliche Freiheit gegenüber: Liebe ist anarchisch und daher gefährlich. Freundschaft ebenso.

Deshalb müssen Erato und Euterpe weg.

Polyhymnia

ist die letzte der Musen, die hier vorgestellt werden soll[4]. Den Namen kann man auf zweierlei Weise deuten. Erstens als diejenige, die viele Hymnen kennt. Diese Deutung scheint z.B. dem Namen einer Jukebox zu Grunde liegen: Polyhymat[5].
Zwar ist die dabei erkennbare Tendenz, eine Muse zu einem automatisierten Verhalten zu zwingen, zu verurteilen, aber immerhin kennt sie noch diese Hymnen/Lieder.
Problematisch erscheint mir allerdings, dass gerade diese Jukebox, die uns den Bezug zur an Liedern kenntnisreichen Polyhymnia deutlich macht, ein Produkt der ehemaligen sogenannten DDR war. Das könnte die Deutung des Namens „Polyhymnia“ dahingehend modifizieren, dass im Gegenteil gemeint ist, dass viele (möglichst alle) einem Lied folgen.
Eine Möglichkeit, damit umzugehen, ist das opportunistische Verhalten „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ , das immerhin noch ein Minimum an Gesangsmöglichkeiten erlaubt. Die extreme Funktion von Polyhymnia hingegen wäre in dieser Deutung die Strafe für diejenigen, die ein anderes Lied singen als das eine, gerade genehmigte: „Hoch die Fahne und ab mit dem Kopf!“ (wobei hier keine spezifische Fahne gemeint sein soll).
Auch wenn die Todesstrafe abgeschafft ist, sind wir doch alle gehalten, möglichst einer begrenzten Anzahl von Liedern zu folgen. An der Spitze der Hitliste dieses revolutionären Liedgutes stehen das bereits erwähnte „Wir wollen kein CO2“ und das ebenfalls bereits erwähnte Lied vom ewigen Frühling und schließlich an dritter Stelle das bereits etwas in die Jahre gekommene Lied des „Oktoberclubs“: „Sag‘ mir, wo du stehst“[6]

Nur diese zweite Deutung der Polyhymnia sichert ihr einen Rest von Existenzberechtigung. Sie ist also die einzige Muse, die heute überhaupt noch erwähnt werden sollte. Kliometerthal Unser Urpokal!
Wenn es uns gelingt, die ganze Symbolik hinwegzufegen und die Welt nur noch aus Zeichen besteht, deren Befolgung Pflicht ist (Ampel!), dann können wir endlich beginnen, ganz pragmatisch daran zu arbeiten, dass alle Menschen gleich sind und gleiche Rechte und Pflichten haben: gleiche Wohnungen, gleiche Autos, gleiches Essen, gleichen Schnaps, gleiche Kinder (1,6 Stück pro Frau), Hummer und Kaviar für alle!

all made out of Ticky-Tacky TikTok

And I think to myself, what a wonderful world!

Weg also mit dem Dreck!

Fußnoten

  1. https://www.welt.de/kultur/plus250766008/Berliner-Stadtschloss-Acht-Juden-treiben-Deutschlands- Linke-in-den-Wahnsinn.html?dicbo=v2-MB60jDa&cid=kooperation.article.outbrain.desktop.AR_11.welt
  2. Blödsinnig ist dieser Merksatz auch deshalb, weil es nicht darum geht, wie die Musen heißen. Name ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut. Viel wichtiger ist, wofür sie stehen.
  3. Hier ist zu bemerken, dass das Nicht-Wollen irgendwann zum Nicht-Können führt.
  4. Alte Überlieferungen besagen, es gebe noch drei bis vier weitere, die aber geheim sind. Geheimnisse bergen eine große Gefahr: Da das Wissen nur durch vertrauenswürdige Personen bewahrt werden darf, könnte es leicht verlorengehen. Oder die Zensur wird so mächtig, dass sie in der Lage ist, Geheimnisse zu tilgen. Ich weiß nicht, ob das Wissen um die vier weiteren Musen ausgestorben ist oder ob es im Geheimen doch noch bewahrt wird.
  5. Böse Zungen aus der damaligen dunklen Zeit sahen in dieser Jukebox einen wesentlich profaneren Zweck und bezeichneten sie – vom Namen ausgehend – als Deflorationsmaschine.
  6. Eigentlich braucht man das nicht mehr zu sagen, denn vermutlich hat die Obrigkeit diverse technische Möglichkeiten, das auch so zu ermitteln. Immerhin könnte aber das Sagen (das Geständnis, zu denken, was bedeutet, gelegentlich auch quer zu denken) eine gewisse kathartische Wirkung auf den Delinquenten haben und ihn zur Reue führen. Womit wir wieder bei der Tragödie wären, deren Chor die Polyphonie noch nicht kannte. Q.e.d.